"Maria Luisa war die älteste von uns drei Schwestern. Ein wunderschönes Mädchen, das vom Wesen her in vielem Roberto ähnelte. Als wir in Auschwitz waren und dann später, von unseren Eltern getrennt, in Belsen und Braunschweig, wurde sie für Bice und mich zu einer Art Mutter. Fünfzehn Jahre später glaube ich noch manchmal, wenn rings um mich alles in Schweigen liegt, ihre zarte, heisere Stimme zu hören, wie sie in der Baracke für Bice und mich singt, um die absurde Hoffnung aufs Überleben in uns wachzuhalten. Eines Abends, wir waren gerade in den Braunschweiger Stall zurückgekehrt, den sich einige wenige italienische Jüdinnen mit siebenhundert ungarischen Glaubensgenossinnen teilten, kam eine Aufseherin und las eine Liste mit Namen von Deportierten vor. Maria Luisa war auch darunter. Unsere Schwester stellte sich mit den anderen Aufgerufenen an. Bice und ich glaubten, sie müsse einen zusätzlichen Arbeitsdienst leisten, wie es oft geschah. Unsere Schwester hatte keine Zeit mehr, sich von uns zu verabschieden. Wir sahen sie nie wieder.
Mehr als alle anderen Geschwister ähnelte
Bice ihrer Mutter. Vor allem wegen ihres Charakters. Sie war das zweitletzte Kind und noch ganz klein, als sie nach Auschwitz, Belsen und Braunschweig kam. Vier Tage lang lag ihr Leichnam auf
einer Holzbank, zuletzt ganz von Schnee zugedeckt. Mein Vater Ettore Sonnino und meine Mutter Giorgia Milani, vierundsechzig und achtundfünfzig Jahre alt, starben in den Gaskammern von Birkenau
am 28. Oktober 1944. Paolo wurde im November im Alter von siebenundzwanzig, Roberto im Alter von sechsundzwanzig Jahren umgebracht. Giorgio kam wenige Tage nach seinen Brüdern im Alter von
neunzehn Jahren um. Maria Luisa wurde mit fünfundzwanzig in Flossenbürg ermordet, am 20. März 1945. Bice wurde in der Nacht vom 15. auf den 16. Januar 1945 in Braunschweig ermordet. Sie war
einundzwanzig Jahre alt. Die Zahl, die der Tod in meinen Arm eingebrannt hat und die ich heute noch trage, lautet: A26699. Im September 1950, nach fünf Jahren in Erholungsheimen und Sanatorien,
kehrte ich als Einzige meiner Familie ins Leben zurück."
(aus: Piera Sonnino, Die Nacht von Auschwitz, Das Schicksal einer italienischen Familie)